Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer äußert sich im W+M-Interview über Standortvorteile in Sachsen, den Umbau der Kohleregionen und die Risiken der Energiewende.
W+M: Herr Ministerpräsident, wie bewerten Sie die Entwicklung der sächsischen Wirtschaft 2023?
Michael Kretschmer: Für die sächsische Wirtschaft ist das Jahr 2023 noch immer eine große Herausforderung. Darauf weisen auch die aktuellen Indizes des ifo-Instituts hin. Dennoch bin ich überzeugt, dass unsere Wirtschaft auch diese Hürden meistern wird. Denn neu investieren oder ihre Fertigung ausbauen wollen nicht nur weltweit agierende Unternehmen wie TSMC oder Infineon. Auch viele mittelständische Unternehmen planen Investitionen, bauen aus, schaffen neue Arbeitsplätze oder sichern bestehende. So errichtet der Batteriespezialist Skeleton neben dem Standort in Großröhrsdorf ein zweites sächsisches Werk in Markranstädt. Aber klar ist auch, dass wir einen gesellschaftlichen Konsens brauchen über die Energieversorgung der nächsten Jahrzehnte in Deutschland. Und wir müssen weiter beim Thema Fachkräfte dranbleiben.
W+M: Sachsen ist mit der Ansiedlung des Halbleiterherstellers TSMC ein Coup gelungen. Was versprechen Sie sich von der Ansiedlung?
Michael Kretschmer: Die Großansiedlung ist ein Gewinn für ganz Sachsen. Und sie ist zugleich auch gut für Deutschland und Europa. Schließlich erreichen wir so eine größere technologische Unabhängigkeit und eigene Stärke in einer Schlüsselbranche – national und europaweit. Die Ansiedlung wird Europas größtes Mikroelektronikcluster, Silicon Saxony, und den gesamten Wirtschafts- und Technologiestandort Sachsen weiter stärken. Verbunden sind damit Investitionen in Milliardenhöhe und viele neue Arbeitsplätze – direkt und indirekt.
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W+M: Wie sind Sachsen Ansiedlungserfolge wie TSMC und andere gelungen?
Michael Kretschmer: Die Entscheidung ist das Ergebnis eines mehrjährigen vertrauensvollen Verhandlungs- und Gesprächsprozesses. Ich bin froh und stolz, dass der Freistaat mit seinen Standortvorteilen überzeugen konnte. Tatsächlich gibt es hier für eine solche Ansiedlung exzellente Bedingungen – ein einzigartiges Halbleiter-Ökosystem, die enge Vernetzung mit Wissenschaft, Forschung und weiteren Wachstumsbranchen sowie das hier gebündelte Wissen und Können der Menschen. Gelungen ist die erfolgreiche Entwicklung nicht zuletzt, weil hier schon zu DDR-Zeiten viele kluge Menschen in der Mikroelektronik gearbeitet haben und die Weichen nach der Wiedervereinigung richtig gestellt worden sind.
W+M: An den Subventionen für TSMC gab es Kritik. Zu Recht?
Michael Kretschmer: Bei den Subventionen für die Halbleiterindustrie geht es darum, dass wir uns als Europa und Deutschland in einer Schlüsseltechnologie unabhängiger machen. Denn wir stehen weltweit im Wettbewerb mit anderen Regionen, die bereit sind, ebenfalls hohe und zum Teil höhere Subventionen zu zahlen. Klar ist auch, dass von Standortentscheidungen wie bei TSMC unsere Wirtschaft insgesamt profitiert. Denn dies sorgt am Ende für eine starke Wertschöpfungskette und minimiert Lieferengpässe. Mit den Investitionen sind zugleich beträchtliche Steuereinnahmen für den Standort Deutschland verbunden. Die positiven Effekte werden nicht zuletzt auch im sächsischen Handwerk und im Mittelstand deutlich zu spüren sein.
W+M: Es wird befürchtet, dass Unternehmen wegen der hohen Energiepreise und andernorts gewährten Subventionen abwandern. Welche Lösungen kann es geben?
Michael Kretschmer: Der zügige Ausbau und die dauerhafte Sicherung eines bezahlbaren Energieangebots sind mitentscheidend für eine gute Zukunft unserer Wirtschaft. Die Verknappung des Energieangebots durch politische Entscheidungen der Ampel in Berlin sehe ich äußerst kritisch. Solange erneuerbare Energien nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, sollte auf andere Energieformen nicht vorzeitig verzichtet werden. Es geht schließlich um unsere Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb werbe ich für eine Ausweitung des Energieangebotes. Die Energiewende muss komplett neu aufgesetzt, entideologisiert und tatsächlich auf Effizienz, Kosten und Versorgungssicherheit ausgerichtet werden. Auf internationaler Ebene braucht es noch mehr Engagement für die Schaffung gleicher und fairer Wettbewerbsbedingungen.
W+M: Wie stehen Sie aktuell zum Thema Industriestrompreis?
Michael Kretschmer: Beim Strompreis sollten wir auf eine breite und langfristige Entlastungswirkung im Zusammenspiel mehrerer Maßnahmen setzen. Mir ist wichtig, dass nicht nur energieintensive und große Unternehmen profitieren, sondern auch kleinere Betriebe und das Handwerk entlastet werden. Für eine umgehende Senkung der Strompreise für Unternehmen und Haushalte gibt es verschiedene Instrumente, darunter die Senkung der deutschen Stromsteuer auf den EU-Mindestsatz und die Begrenzung von Umlagen und Abgaben.
W+M: Die bisherige Energiewende des Bundes haben Sie für gescheitert erklärt. Wie ist Ihr Ansatz für eine neue Energiewende?
Michael Kretschmer: Die Unsicherheiten sind groß. Tatsächlich gibt es ja immer wieder Tage, an denen nicht genug Wind weht und Wolken die Sonne verdecken. Trotz des geplanten Ausbaus bei Wind- und Solarenergie werden die bisher bis 2035 vorgesehenen Erdgas- und Wasserstoffkraftwerke die Versorgungslücke nicht abdecken können. Und so ist auch ein Kohleausstieg bereits 2030, wie ihn einige fordern, illusorisch. Wir brauchen aus meiner Sicht einen Neustart dieser Energiewende mit einem realistischen Blick. Für mich steht die Versorgungssicherheit an vorderster Stelle.
W+M: Auch Sachsens Bürger sehen Umfragen zufolge die Energiewende mehrheitlich kritisch. Wie können die Bürger für das Projekt gewonnen werden?
Michael Kretschmer: Wenn die Menschen den Eindruck haben, dass alles Hand und Fuß hat, kann die Energiewende am besten erreicht werden. Wie es derzeit läuft, das macht viele skeptisch, was ich gut nachvollziehen kann. Der Bund muss sich bewegen. Es geht nicht mehr um einzelne parteipolitische Interessen, sondern es geht um das Wohl dieses Landes, parteiübergreifend und länderübergreifend.
Klar ist auch, dass Akzeptanz für Vorhaben wie Windkrafträder dann zunimmt, wenn die Menschen vor Ort beteiligt werden – und wenn sie davon profitieren. Sei es, weil die Kommune, die eine Fläche bereitstellt, an den Erlösen beteiligt wird und am Ende mehr Geld in der Gemeindekasse ist. Eine andere Möglichkeit sind Energiegenossenschaften oder günstige Bürgerstromtarife. Das ist der erfolgversprechende Weg, den ich unterstütze.
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W+M: Wie bewerten Sie den Stand beim Ausbau der erneuerbaren Energien in Sachsen?
Michael Kretschmer: Wir kommen gut voran. Bei der Windenergie stieg die installierte Leistung im vorigen Jahr in Sachsen auf rund 1.320 MW. Im ersten Halbjahr 2023 sind bereits Anlagen mit einer Leistung von 46 MW neu genehmigt worden. Für 99 weitere Anlagen liegen Anträge vor. Die Ausweisung von Landesfläche für die Windenergienutzung soll deutlich früher kommen als ursprünglich geplant. Im Bereich Photovoltaik gibt es im Freistaat bereits 361 große PV-Freiflächenanlagen mit insgesamt 1.211 MW. In Witznitz kommt jetzt die europaweit größte Anlage mit rund 650 MW dazu.
W+M: Welche Hoffnung verknüpfen Sie mit dem Aufbau der Wasserstoffwirtschaft?
Michael Kretschmer: Wasserstoff wird als Energieträger und Rohstoff für unsere Kraftwerke und Industrien eine wichtige Rolle spielen. Mit der Sächsischen Wasserstoffstrategie haben wir Anfang 2022 den Weg zu einer Wasserstoffwirtschaft entlang der gesamten Wertschöpfungskette im Freistaat bereits vorgezeichnet. Durch H2-Projekte im Rahmen des IPCEI-H2 im Großraum Leipzig-Halle wie „LHyVE Erzeugung“ oder „Hy-Kero“ und in Dresden mit dem Aufbau einer Serienfertigung von Elektrolyseuren durch die Sunfire GmbH haben wir wichtige Weichen gestellt. Traditionelle sächsische Stärken in den Bereichen Forschung und Entwicklung sowie Maschinen- und Anlagenbau können wir hier optimal nutzen, industrielle Wertschöpfung erhalten und zugleich den Klimaschutz stärken.
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W+M: Einige sächsische Regionen sehen sich beim Aufbau des Wasserstoff-Kernnetzes allerdings abgehängt. Fordern Sie Nachbesserungen?
Michael Kretschmer: Die Bundesnetzagentur wird unter Beteiligung der Ferngasnetzbetreiber bis Ende 2023 ein Wasserstoff-Kernnetz festlegen, das dann sukzessive um weitere Leitungen ergänzt werden soll. Sachsen hat sich im Juli 2023 mit einer gemeinsamen Stellungnahme in diesen Prozess mit mehreren Vorschlägen eingebracht und Nachbesserungen gefordert. Darunter die Anbindung von Südwest-Sachsen und der Region Görlitz/Zittau. Aber auch der Industriebogen Meißen, die Strukturwandel-Regionen, Dresden und Freiberg als Industriestandorte sowie weitere Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, Wasserstoffspeicher-Kraftwerke, H2-ready Gaskraftwerke und Elektrolyseure im Freistaat. Ich erwarte mit Spannung den noch ausstehenden überarbeiteten Planungsentwurf für das Kernnetz.
W+M: Sachsens Wirtschaft steht mitten in der Transformation. Wie kann sie beispielsweise in der so wichtigen Autoindustrie gelingen?
Michael Kretschmer: Die Strukturen in der Autoindustrie ändern sich derzeit überall umfassend. Das gilt auch für das Autoland Sachsen mit seiner langen Tradition im Automobilbau. Es gibt hier einen großen Erfahrungsschatz und Innovationsgeist. Und deshalb bin ich trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge, die es bei einem solchen tiefgreifenden Wandel naturgemäß gibt, zuversichtlich, dass die Transformation gelingen wird. Das gilt auch für die Zulieferer.
W+M: Und wie kommt der Umbau der sächsischen Kohleregionen voran?
Michael Kretschmer: Wir sind derzeit noch am Anfang eines Prozesses, der bis 2038 reicht. Und ich erlebe trotz aller Herausforderungen viel Zuversicht und einen starken Willen, hier etwas Neues aufzubauen. Es geht darum, den Wandel so zu organisieren, dass die Regionen weiter starke und lebenswerte Wirtschaftsstandorte sind. Ich bin allen dankbar, die sich für dieses Ziel engagieren. Vor allem neue Unternehmen mit attraktiven Arbeitsplätzen sind ein vorrangiges Ziel für diese Regionen. Viele, meist kleinere kommunale Projekte, aber auch schon einige größere auf Landes- bzw. Bundesebene sind in der Planung oder bereits im Antrags- und Bewilligungsverfahren. Für kräftige Impulse werden die neuen Großforschungszentren sorgen. Froh bin ich auch darüber, dass die Bundeswehr künftig in der Lausitz wieder eine größere Rolle als Arbeitgeber und Wirtschaftsfaktor spielen wird. Als Freistaat setzen wir uns weiter dafür ein, dass insbesondere der Ausbau der Schieneninfrastruktur vorankommt.
W+M: Welche Effekte erhoffen Sie sich von den neuen Großforschungszentren, dem Deutschen Zentrum für Astrophysik (DZA) und dem Center for the Transformation of Chemistry (CTC)?
Michael Kretschmer: Die beiden Großforschungszentren DZA und CTC ergänzen bereits im Aufbaustadium die Forschungs- und Bildungslandschaft in Sachsen. Mit dem weiteren Aufwuchs an Laboren, Personal und Forschungsprojekten wird ihre Strahlkraft weit über die Grenzen Sachsens hinausreichen und weltweit Beachtung finden. Mit dem CTC gehen wir neue Wege – hin zu einer auf nachwachsenden Rohstoffen oder recycelten Materialien aufbauenden Kreislaufchemie. Das DZA wiederum kombiniert auf einzigartige Weise die Forschung und Entwicklung in der Digitalisierung, Sensortechnik und Materialforschung. Beide Zentren werden langfristig den Wissenschafts- und Innovationsstandort Sachsen stärken und den Strukturwandel im Mitteldeutschen sowie im Lausitzer Revier prägen.
W+M: Die Wirtschaft klagt über die weiterhin hohen Belastungen durch die Bürokratie. Warum gelingt uns der Abbau der Bürokratie nicht?
Michael Kretschmer: Vermeidbare Bürokratie und Überregulierung fesseln unternehmerisches Handeln und bremsen so die Innovationskraft des Standortes Deutschland. Mehrere Kommissionen haben den Freistaat Sachsen zuletzt in punkto Bürokratieabbau und Verwaltungsmodernisierung beraten. Im Ergebnis haben wir so in den vergangenen Jahren an vielen Stellen Vereinfachungen für die Fördermittelempfänger und damit eine Entbürokratisierung erreicht. Tatsächlich sind unsere Möglichkeiten, Bürokratie einzudämmen, aber begrenzt. Denn nur ein einstelliger Anteil der Normen betrifft Landesrecht. Besonders gefordert sind deshalb nach wie vor auch Bund und EU.
W+M: Fachkräftegewinnung ist ebenfalls ein großes Thema. Hat der Freistaat hier Ideen insbesondere für den kleinen Mittelstand?
Michael Kretschmer: Wirtschaftliches Wachstum hat viel damit zu tun, ob es genügend gut ausgebildete Fachkräfte gibt. Wir fangen hier nicht bei Null an. Gerade auch die Kammern und Verbände sind in den vergangenen Jahren Vorreiter gewesen bei der Anwerbung von Fachkräften. Gemeinsam mit der Wirtschaft hat die Staatsregierung im Frühjahr den „Pakt zur Gewinnung internationaler Fach- und Arbeitskräfte“ beschlossen. In ihm spielen die Handwerksberufe eine wichtige Rolle. Und in unserem aktuellen Maßnahmenplan zur Gewinnung internationaler Fach- und Arbeitskräfte für Sachsen werden ganz gezielt auch kleine und mittelständische Unternehmen angesprochen.
W+M: Sind die hohen Umfragewerte der AfD in Sachsen eigentlich ein Thema bei Investorengesprächen?
Michael Kretschmer: In meinen Gesprächen mit Investoren spielen Umfragewerte von Parteien keine Rolle. Klar ist: Wir erleben in der AfD eine zunehmende Radikalisierung – Abgrenzung von rechtsextremen Kräften und Reichsbürgern findet immer weniger statt. Die AfD ist eine radikal-populistische Partei, die viele Werte unseres anständigen Zusammenlebens missachtet. Mein Weg für Sachsen ist ein anderer. Ich setze auf den Austausch von Argumenten, auf Bürgerdialoge, auf Gespräche mit den gesellschaftlichen Gruppen. Es geht darum, den Zusammenhalt zu stärken und so für ein friedliches und gutes Miteinander zu sorgen. Mir ist wichtig, dass sich der Freistaat weiter gut entwickelt, wirtschaftlich gut vorankommt und eine gute Zukunft hat. Dafür steht meine Partei, dafür arbeite ich.
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